(veröffentlicht 12.2014, WDR5, „Spielart“, Geschichten, die Sie sich schenken können)

Seit Stunden schon schienen sich die matten Lichter seiner Scheinwerfer durch den dicht fallenden Schnee zu fressen. Die Heizung hatte sich den klirrenden Minusgraden ergeben und Eisblumen begannen, die Seitenfenster des alten Autos zu erobern. Immer wieder rieb Leon sein kleines Guckloch in der Windschutzscheibe frei, um den ungleichen Kampf gegen die Kälte innerhalb von Sekunden erneut zu verlieren.
Warum in aller Welt war er nicht in der Firma geblieben? So oft hatte ihn die Couch seines winzigen Büros beherbergt. Aber am heutigen Tag hatte sein Vorgesetzter ihn bekniet: Es sei schließlich Weihnachten. Da müsse man bei der Familie sein. Und Leon hatte keinen Mut gefunden zuzugeben, dass er nichts hatte, was man als solche hätte bezeichnen können. Und so hatte es ihn auf die ungastlich-einsamen Straßen getrieben, auf denen er sich im Schneetreiben verirrt hatte.

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jplenio, Pixabay

Die Schnauze des alten Fords neigte sich nach unten und Leon seufzte hoffnungsvoll. Das musste der Anleger der kleinen Fähre sein! Er mochte nicht darüber nachdenken, was geschah, wenn die Letzte bereits ohne ihn abgelegt hatte. Eine Nacht in diesem Wagen würde er nicht überleben und seine Tankfüllung hielt es mit den Außentemperaturen und fiel stetig. Aber nein, dort tauchte aus den weiß durchdrungenen Wirbeln die abgestoßene, metallene Kante der Rampe auf und Leon rollte die wenigen Meter auf die schwankende Ladefläche des alten Fährkahns. Erleichtert und erschöpft legte er die Stirn auf das kalte Lenkrad und schloss die Augen. Für wen in aller Welt nahm er jedes Mal diese Fahrerei auf sich? Seit Jahren bestand sein Alltag aus Instantkaffee, Fertiggerichten alleine vor dem Fernseher und seiner Arbeit in der Werbefirma, in der seine ausufernden Überstunden meist herzlich willkommen geheißen wurden. Nicht, dass er als Mann unansehnlich gewesen wäre. Aber leider fielen ihm außerhalb der Werbeslogans die Worte nicht so einfach zu und so machten ihm gerade Tage wie dieser schmerzlich die wachselnde Leere seines Lebens bewusst.

An diesem Punkt seiner düsteren Überlegungen angelangt, klopfte es an das undurchsichtig vereiste Seitenfenster und Leon schrak so zusammen, dass er sich auf die Lippe biss. Mit dem Geschmack von Blut auf der Zunge öffnete er zögernd die Autotür. Sofort fasste der Wind dahinter und eine Heerschaar von Schneeflocken schien darum zu kämpfen, sie ihm vollends aus der Hand zu reißen. Gegen das scharf-kalte Treiben anblinzelnd fiel es Leon zunächst schwer, die vermummte Gestalt vor ihm zu erkennen. Als es ihm schließlich gelang, schaffte sein überrumpeltes Gehirn lediglich, ein Wort bereitzustellen und er fragte heiser: »Tess?«
Die geschwungenen Lippen unter der weiten Kapuze bogen sich aufwärts und eine schmale Hand griff anstelle einer Antwort nach der seinen. Mit erstaunlicher Kraft zog sie ihn fort von dem Auto, dessen Tür offen stehen blieb, hin zu dem kleinen, geschützten Fährhäuschen. Überrascht ließ Leon es geschehen, trat nach ihr ein und schob die hölzerne Tür hinter sich zu.
Würzig durchtränkte Wärme empfing ihn und strich über Gaumen und Seele. Der Duft von Gebäck, Glühwein und Tannengrün mischte sich mit dem harzig-staubigen Aroma verwitterten Holzes und dem schwachen Modergeruch alter Schiffe. Die zierliche Gestalt vor ihm drehte sich um und streifte die Kapuze vom Kopf. Dunkles Haar fing die hellen Reflexe der Weihnachtsbeleuchtung ein, und große Augen lächelten zu ihm auf. »Entschuldige bitte, wenn ich dich erschreckt haben sollte, Leon, das wollte ich nicht!«
Immer noch erstarrt sah er sprachlos auf die kleine Frau nieder, die seit Jahren in der Abteilung nebenan arbeitete, und ihm mehr als nur einen wunderschönen Tagtraum beschert hatte. Erst als eine Schneeflocke in seinem Haar taute und ihm auf die Nase tropfte, erwachte er aus seiner Trance.
»Ich — du hast mich nicht erschreckt. Bloß überrascht. Aber was tust du hier? Wir haben Heiligabend und —«
Ihr Finger auf seinen Lippen beendete die hilflose Rede.
»Weißt Du, Leon, wir arbeiten schon sehr lange in dieser Firma. Nur hat sich bisher nie die Gelegenheit ergeben, wirklich miteinander zu sprechen. Außerdem hatte ich immer den Eindruck, dass du im Büro mit den Gedanken so bei der Arbeit bist, dass ich mich nie getraut habe, dich dort anzusprechen …« Bezaubernde Röte stieg ihr in die Wangen und Leon traute seinen Ohren kaum.
Sie hatte sich nicht getraut, ihn anzusprechen?
»Da ich von Kollegen weiß, wo du wohnst, und welche Strecke du fährst, habe ich unseren Chef gebeten, dich heute auf jeden Fall nach Hause zu schicken, um dich hier zu überraschen. Ich meine, ich habe auch niemanden, mit dem ich den heutigen Abend verbringen könnte, und da du immer so viele Überstunden machst und sogar manchmal in der Firma schläfst, dachte ich mir, wir könnten vielleicht ein wenig zusammensitzen und reden. Falls du natürlich lieber nach Hause möchtest oder ich mich geirrt habe, dann ist es gar kein Problem, wenn —«
Leon griff nach Tess´ Hand und drückte sie sanft, um ihren schneller werdenden Monolog zu unterbrechen.
»Tess, ich kann mir keine schönere Überraschung vorstellen, als diesen Heiligabend mit dir zu verleben! Aber du musst mir bitte erklären, wie du Sam dazu gekriegt hast, dass er sein Boot dafür zur Verfügung stellt!«, rette er sich auf unverfänglicheres Terrain, während er seinen Mantel aufknöpfte, der sich mittlerweile anfühlte, wie eine zu hoch geschaltete Heizdecke. Tess ließ ihrerseits ihren Parker von den Schultern gleiten und offenbarte darunter ein schulterfreies Oberteil, das seinen Teil dazu beitrug, dass Leon sich hektisch abwandte und nach einem Platz für sein eigenes Kleidungsstück suchte.
Schließlich setzten sich beide auf die breite, mit roten Polstern bedeckte Bank an der Wand, bei den großen Fenstern, durch die nichts als abenddämmrig grau werdender Schnee zu sehen war. Auf einem Tischchen stand ein Elektrokessel mit Glühwein neben Tellern mit Gebäck. Lämpchen an Tannenzweigen in einer Vase spendeten buttriges Licht und ein Heizöfchen hielt die Kälte fern.
Die Hände um heiße Tassen geschlungen, erzählte Tess von ihrer Bestechung des Fährmannes, der erst morgen früh zurückkommen und den Betrieb wieder aufnehmen würde, und der heute sowieso mit dieser Überfahrt geendet hätte. Leon berichtete von seiner Fahrt durch dichtes, in die Irre leitendes Schneetreiben und stellte erleichtert fest, dass die Wärme das Eis um seinen Sprachschatz getaut zu haben schien, denn er fand die richtigen Worte.
Ein Thema führte ins nächste und Wein- und Gebäck-begleitet glitt ihr Gespräch mit der Leichtigkeit von Kufen über Eis dahin. Immer wieder trat Leon innerlich aus dem Geschehen heraus, um verwundert den Kopf zu schütteln und als sie ihn nach Stunden schließlich vorsichtig küsste, stand für ihn fest: Dies war die schönste Weihnacht seines ganzen Lebens!
*
»Wann hat man ihn gefunden?«
»Der Fährmann trat heute zum ersten Mal seit dem Unwetter wieder seinen Dienst an. Meinte, über die Feiertage hätte er wegen des Schneesturmes sowieso nicht übersetzten können. Hat den offenen Wagen in der Schneewehe erst gar nicht gesehen.«
Der erste Polizist schüttelte langsam den Kopf. »Der Tank war leer. Hat sich sogar noch ausgezogen. Das soll ein Reflex bei Erfrierenden sein. In seiner Hilflosigkeit interpretiert der Körper das Gefühlte verkehrt und lässt den Menschen glauben, ihm wäre zu heiß.«
»Weiß man schon, wie er heißt und wer er ist?«, fragte der zweite Beamte, der sich frierend die Hände rieb, während Nebelschwaden seine Worte begleiteten.
»Ja. Leon Feller. Werbetexter. Sein Chef hat ihn am Heiligabend gewissermaßen gezwungen, nach Hause zu fahren. Wusste nicht, dass der Mann keine Familie hatte. Macht sich riesige Vorwürfe deswegen. Traurig, so was!«, seufzte der erste Polizist.
»Mag sein«, entgegnete sein Kollege gedehnt, »aber eins ist merkwürdig: Hast du in Leon Fellers Gesicht gesehen? Der Mann lächelt immer noch übers ganze Gesicht, als hätte er trotzdem sein schönstes Weihnachtsfest erlebt!«